Bogensport-WM: Michael Müller will nach Rio – und dann die Karriere beenden

Konzentration und Ruhe finden, Bogen spannen, Ziel anvisieren und anschließend den Pfeil teils mit über 300 Stundenkilometern auf Reise schicken – 50 Meter weiter hinten schlägt dieser im Optimalfall in der goldenen Mitte ein. „Das Ziel ist immer der perfekte Schuss“, sagt Michael Müller.

Zehn Punkte, das ist die Höchstmarke, nach der alle Sportler streben. „Man braucht die absolute Ruhe. Ein kleiner Wackler und das Ziel wird deutlich verfehlt“, weiß Müller. „Jeder Fehler wird bestraft.“ Das kostet nicht nur Punkte, sondern kann auch weitaus größere Auswirkungen haben. Schließlich findet in Donaueschingen (Baden-Württemberg) gerade die Bogensport-Weltmeisterschaft statt. Im umfunktionierten Fürstlichen Reitstadion geht es vom 24. bis 30. August 2015 um Medaillen, um gute Platzierungen – und Startplätze für die Paralympischen Spiele in Rio 2016.

Eine Reise an den Zuckerhut – das ist auch der große Traum von Michael Müller. „Es wäre für mich der perfekte Abschluss, um nach den Paralympics meine Karriere zu beenden“, sagt der 57-Jährige. Seit 2008 gehört er zur Nationalmannschaft. Die Spiele in London verpasste Müller, der in Tespe (Niedersachsen) in der Nähe von Hamburg lebt. Um ein Ticket nach Rio zu sichern, hat er drei Chancen. Die erste bei der WM in Donaueschingen, die für ihn ein richtiges Heimspiel ist. Immerhin stammt Michael Müller gebürtig aus dem rund 30 Kilometer entfernten Freudenstadt. Doch die Konkurrenz ist riesig. 80 Teilnehmer kämpfen um die Plätze auf dem Treppchen und die Qualifikation für Rio. „Es wird wahnsinnig schwer“, sagt Müller. Gewissheit wird er wohl erst am Wochenende haben, auch wenn er sagt: „Wenn ich es ins Viertelfinale schaffe, müsste das eigentlich reichen.“

An Routine mangelt es nicht. Die Abläufe hat der 57-Jährige tausende Male durchgespielt. Das Erfolgsrezept? „Schießen, schießen, schießen“, erklärt Müller. Im Monat jagt er 1500 bis 2500 Pfeile in Richtung Zielscheibe. Der ersehnte Bereich ist kaum größer als ein Bierdeckel. Dass der Niedersachse überhaupt beim Bogensport gelandet ist, liegt an einem schweren Autounfall 1996. „Ich habe vier Wochen im Koma gelegen, habe noch sechs Monate im Krankenhaus verbracht und war anschließend drei Jahre in der Reha. Der Unfall hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen.“ Links musste der Unterschenkel amputiert werden, auch die Bewegung rechts ist stark eingeschränkt. „Ich habe kein Gefühl in den Beinen“, erklärt er und sagt dennoch: „Zwar habe ich häufig Schmerzen, aber Jammern bringt mich nicht weiter. Der Kampf in der Reha hat sich gelohnt.“

Spielte er vorher Volleyball und fuhr gerne Ski, kam er in der Reha mit dem Bogensport in Kontakt. „Der Sport hat mich auf Anhieb fasziniert“, berichtet Müller. 2001 nahm er erstmals an einer deutschen Meisterschaft bei den Nichtbehinderten teil, erst sieben Jahre später kam durch eine zufällige Begegnung der Kontakt zur Nationalmannschaft der Bogensportler mit Behinderung zustande. Ein Glücksfall. So holte der 57-Jährige bei der WM 2009 direkt Bronze mit dem Team und wurde Achter im Einzel. Erfolge, die er bei der Heim-WM zu gerne wiederholen würde.

Ein erstes Highlight erlebte Michael Müller bereits, bevor er den ersten Pfeil im Wettkampf abfeuerte. Bei der Eröffnungsfeier durfte er die deutsche Fahne tragen. „Das war ein besonderer Moment. Die Atmosphäre, die vielen Zuschauer – das haben wir in dieser Form noch nirgendwo gehabt. Wir freuen uns sehr über dieses Interesse, zumal wir sonst als Randsportart mehr oder weniger unter uns sind. Das ist eine tolle Wertschätzung“, so Müller.

Bestens gefüllte Zuschauerränge, motivierte Athletinnen und Athleten sowie ein buntes Programm – die Eröffnungsfeier bei den Weltmeisterschaften im Bogensport hat Lust auf die Wettkämpfe in den kommenden sieben Tagen gemacht. Mit einer Nationenparade, Fallschirmspringern und berittenen Bogenschützen wurde die WM im umfunktionierten Fürstlichen Reitstadion in Donaueschingen offiziell eröffnet.

„Wir freuen uns sehr, dass hier die größte WM im Bogensport von Menschen mit Behinderung aller Zeiten stattfindet“, sagt Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, der in seinem Grußwort an die große Tradition dieser paralympischen Sportart erinnerte. „Wir sind stolz darüber, dass der Jahreshöhepunkt der Bogensportler nach Turin und Bangkok diesmal bei uns in Deutschland ausgetragen wird“, so Beucher. Der Dank gelte allen Unterstützern, Partnern und Sponsoren, sowie nicht zuletzt den zahlreichen Helferinnen und Helfern aus vielen verschiedenen Ländern. Die sorgen für beste Bedingungen.

DBS, Foto: DBS/Kevin Müller

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