Dazugelernt: Rolli-Selbstversuch mit Fußgängern

Eigentlich weiß es ja jeder: Vorurteile sollte man von Zeit zu Zeit einem Praxistest unterziehen. Dieser Tage geriet ich eher zufällig in die Verlegenheit, das zu tun und hatte viel Spaß dabei.

Um fünf Ecken herum erreichte mich die Anfrage, ob ich nicht vor einer Gruppe angehender Landschaftsarchitekten einen Vortrag halten wolle, um aus dem Alltag eines Rollstuhlfahrers zu berichten, quasi als lebendes Praxisbeispiel. Vorweg wollte die Gruppe selbst Praxiserfahrung sammeln. Alle sollten in einem Sanitätshaus Rollstühle in Empfang nehmen, und auf einer Tour durch die Innenstadt selber einmal ausprobieren, wie man damit so zurechtkommt.

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Damit wären wir beim Thema Vorurteil. Solange ich nun im Rollstuhl unterwegs bin, habe ich solche Aktionen immer äußerst argwöhnisch betrachtet. In regelmäßigen Abständen findet man in der Lokalpresse, im Regionalfernsehen, in Radiobeiträgen Berichte über solche Selbstversuche.

Mal sind es Pflegeklassenschüler, früher oft Zivildienstleistende, mal eben – wie in diesem Fall – Studenten, die sich persönlich ein Bild von den Beschwernissen mobilitätseingeschränkter Mitmenschen machen wollen. Das Ergebnis solcher Experimente ist immer gleich: Bestürzt erkennen die Probanden, dass die Welt für Unsereinen voller schrecklicher Hindernisse ist.

Freilich scheitern die Rollstuhlnovizen auch schon an daumenhohen Türschwellen, Schwingtüren und der Zehn-Zentimeter-Lücke, die sich zwischen Bahnsteig und S-Bahn auftut. Wie auch nicht – bar jeglicher Erfahrung und in 25-Kilo-Rollstühlen mit Vollgummibereifung unterwegs? Kurz und gut: Für mich war seit jeher klar, dass solche Aktionen gar nichts bringen, weil sie mit meinem tatsächlichen Alltag wenig gemein haben.

Ich sagte aus Neugier trotzdem zu, schlug aber vor, die Gruppe gleich bei ihrer Erkundungstour zu begleiten, nicht zuletzt um dabei zu demonstrieren, wie man als geübter Rollstuhlnutzer mit der einen und anderen kritischen Situation zurechtkommt, und um als Ansprechpartner für alle auftauchenden Fragen zur Verfügung zu stehen. Gesagt, getan. An einem strahlendsonnigen Donnerstagmorgen fand ich mich am Rande des Kleinstädtchens Gerlingen vor den Toren von Stuttgart am vereinbarten Treffpunkt – der Niederlassung eines großen Sanitätshauses – ein, wo bereits 18 Rollstühle in Reih und Glied auf ihre Testpiloten warteten.

Die nahmen denn auch gleich ungezwungen Platz und inspizierten die ungewohnten Gefährte. Wie nicht anders zu erwarten, handelte es sich nicht um Aktivrollstühle, sondern um solche, wie sie normalerweise eher in Alten- und Pflegeheimen anzutreffen sind: einzeln abklappbare Fußstützen, Armlehnen, Schiebegriffe mit Handbremse, Vollgummibereifung, Kippschutz – nicht die Sorte Fahrzeug, mit der Rollstuhlfahrer normalerweise aus eigener Kraft in der Stadt unterwegs sind. Andererseits – auch mit sportlicherem Gestühl hätten die unerfahrenen Nutzer wohl kaum auf Anhieb Bordsteinkanten oder grobes Kopfsteinpflaster bewältigt. Ihren eigentlichen Zweck sollten die klobigen Gefährte also erfüllen.

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Staunen und Grübeln

Auftakt zum Hindernisrennen: Der Weg vom Sanitätshaus zur nahegelegenen Stadtbahnstation. Ein sanft ansteigendes Straßenstück, von einem recht komfortablen Gehsteig gesäumt, unterbrochen von diversen Straßeneinmündungen. Erstaunt stellen die rollenden Studenten fest, dass sie permanent zur Straße hin abdriften, weil der Gehsteig geneigt ist. Das Gegenlenken ist mühsam, die ganze Antriebsarbeit muss mehr oder weniger mit nur einem Arm erfolgen. Schon leicht gerötet staunt mein Nebenmann darüber, dass ich ohne sichtbare Zeichen von Anstrengung munter mit ihm plaudere.

Erstes veritables Hindernis: eine Straßeneinmündung, allerdings mit vorbildlich abgesenkten Bordsteinkanten. Ich demonstriere, wie man diese mit leichtem Ankippen überfährt. Aber das nützt den Testfahrern natürlich nichts. Erstens haben ihre Rollstühle Kippschutz, und zweitens braucht es dafür halt ein wenig Übung. Auch eine abgesenkte Bordsteinkante, stelle ich bei dieser Gelegenheit fest, kann ein veritables Hindernis sein, wenn man die Lenkrollen nicht vom Boden bringt.

Das freilich bringt mich ins Grübeln. Schließlich gibt es genug Rollstuhlfahrer, die sich damit nicht so leicht tun, Tetraplegiker etwa, Schlaganfallpatienten und ältere Mitmenschen. Vielleicht ist es ja doch nicht so dumm, dass die angehenden Planer quasi in die Rolle besonders eingeschränkter Rollstuhlnutzer schlüpfen, um dies bei ihren künftigen Überlegungen zu berücksichtigen. Immerhin – sie geben nicht auf. Schließlich retten sich etliche damit, dass sie die Bodenerhebung im Rückwärtsgang überwinden.

An der Stadtbahn wird’s haarig. Um den öffentlichen Nahverkehr nicht zum Erliegen zu bringen, gibt’s die Erlaubnis, aufzustehen und die Gefährte hineinzuschieben. Wer von den Probanden hat sich bis dahin wohl je Gedanken über die kaum wahrnehmbare Höhendifferenz gemacht oder über die paar Zentimeter Luft zwischen Zug und Bahnsteig? Am Zielbahnhof geht’s geradeso weiter: Achtzehn Rollstuhlfahrer und ein Aufzug, der Stau ist programmiert.

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Also zweite Ausnahme: Wer will, steht auf und zieht den Rollstuhl auf der Rolltreppe hinter sich nach oben. Ich selbst bevorzuge ebenfalls die Rolltreppe, was bei meinen Mitreisenden ungläubiges Staunen hervorruft. Gut – das bin ich gewohnt. Es ist auch nicht ganz selbstverständlich, einen Rollstuhlfahrer auf der Rolltreppe zu sehen. Mir selbst hat diese Übung im Angesicht defekter Lifte schon unzählige Male aus der Verlegenheit geholfen, ich erkläre den Studenten aber, dass ich im Zweifelsfall lieber den Aufzug nehme, einfach wegen des geringeren Risikos.

Was sich anschließt, ist mehr oder weniger Stadt von der Stange. Viel Kopfsteinpflaster, mäßige, manchmal auch etwas knackigere Steigungen, hier und da zu enge Bürgersteige, eine Baustelle in der Fußgängerzone, an der dicke Kabel ein nur schwer zu überrollendes Hindernis darstellen. An einer der unterdessen fast ausgestorbenen Telefonzellen mit veritabler Schwingtür fordert der Professor, der die ganze Aktion initiiert hat und uns begleitet, seine Schüler auf, doch mal ein Telefonat zu simulieren. Ich stelle fest, dass man im Rollstuhl ganz schön viel falsch machen kann beim Bezwingen einer Schwingtür.

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Es geht mehr

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob meine Beteiligung an der Aktion so verläuft, wie der Professor sich das vorgestellt hat. Schließlich ist er mit seinen Studenten unterwegs, um ihren Blick dafür zu schärfen, was alles nicht geht, wenn man im Rollstuhl unterwegs ist. Ich hingegen zeige ihnen, was alles geht, wenn man mit dem Gefährt halbwegs zurechtkommt. In Summe profitieren aber alle Beteiligten von der Aktion. Ich bin auf jeden Fall sehr angetan, mit welcher Ernsthaftigkeit und mit welchem Enthusiasmus sich die jungen Leute der Bewältigung der Aufgabe widmen.

Ich werde mit Fragen gelöchert, und mir wird wieder einmal bewusst, wie wenig die Besonderheiten, die mit einem Leben auf Rädern verbunden sind, in der alltäglichen Wahrnehmung nichtbehinderter Menschen eigentlich präsent sind. Und ich werde mit der Nase darauf gestoßen, dass Rollstuhlfahren weit mühsamer sein kann, als ich es empfinde. Mit dem Grad an Einschränkung, den die ungeübten Nutzer mit ihren nicht optimal angepassten Stühlen erleben, müssen viele stärker behinderte Rollstuhlnutzer schließlich tagtäglich zurechtkommen. Und es kann ja nur richtig sein, dass die angehenden Landschaftsarchitekten ihre Planungen auf genau diese Klientel ausrichten.

P1120140Die Studentinnen und Studenten sind nach rund vier Stunden gewiss nicht unglücklich darüber, ihre Leihgefährte in die Obhut des Sanitätshauses zurückzugeben. Wir haben einiges mit- und voneinander gelernt und viel miteinander gelacht. Dass die Ausflügler sich nun besser in meine spezielle Situation versetzen können, bezweifle ich. Dazu habe ich ein wenig zu oft Sätze wie „Mein Gott, wie hältst du das nur aus?“ gehört, und ich habe eigentlich überhaupt nicht den Eindruck, ich müsse unentwegt irgendetwas „aushalten“.

Ich komme mit meinem Leben, so wie es ist, sehr gut klar. Andererseits, denke ich mir, kann es nicht schaden, wenn künftige Gestalter des öffentlichen Raumes sich das Phänomen Mobilitätseinschränkung einmal so plastisch vor Augen führen. Mein persönliches Aha-Erlebnis war, für ein paar Stunden einen Blick auf die gemeinsam erfahrenen Situationen aus einer Perspektive mitzuerleben, über die ich mir nur selten Gedanken mache. Ich denke, ich werde für solche Aktionen künftig ein wenig aufgeschlossener sein als bisher.

Werner Pohl

 

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