Gesellschaftliche Teilhabe und Ausgrenzung im 19. und 20. Jahrhundert

Inklusion geschichtlich betrachtet
Das Internationale Kriegs-Opfer-Bulletin – hier eine Ausgabe aus dem Jahr 1930 – steht mit seinen Grafiken und Fotos, die Schlachtfelder mit toten Soldaten, Kriegsverletzte und Gefangene mit abgemagerten und entstellten Körpern zeigen, in starkem Kontrast zu anderen Bildern, die die Integration der Kriegsversehrten zu zeigen versuchten. Foto: LWL

Die verschiedenen Entwicklungen, Phänomene sowie Praktiken von Teilhabe und Nicht-Teilhabe in den vergangenen 200 Jahren sind das Schwerpunktthema im Band 65 der Westfälischen Forschungen, der jährlich erscheinenden Zeitschrift des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) versteht sich als „Motor der Inklusion“, um gleichwertige und selbstbestimmte Lebensverhältnisse von Menschen mit und ohne Behinderung zu ermöglichen. Das heutige Verständnis von Inklusion als sozial-, bildungs- und kulturpolitische Programmatik ist eine junge Definition. Erst seit den 1990er Jahren dient das Begriffspaar „Inklusion/Exklusion“ zur kritischen Selbstbeschreibung westlicher Gesellschaften.

Die Autoren der elf Beiträge thematisieren unter Kategorien wie kultureller Identität, Nationalität, Klasse, Schicht, (Nicht-)Behinderung, chronische Krankheit und sexuelle Orientierung, was im jeweiligen historischen Kontext zum Beispiel von staatlicher und kirchlicher Seite als „normal“ angesehen wurde und was nicht. Fallstudien – unter anderem zum Umgang mit Armut auf dem Land, über den Strafvollzug in der Weimarer Republik, zur Heimerziehung und zu den Auswirkungen der Psychiatriereform in Westfalen – veranschaulichen Inklusions- und Exklusionsprozesse in der Geschichte. Sie vermitteln zudem neue Einsichten zum gesellschaftlichen Umgang mit menschlicher Verschiedenheit. „Das Begriffspaar In- und Exklusion hilft, sich darüber klar zu werden, dass niemand nur ‚anders‘ beziehungsweise nur ‚ausgegrenzt‘ ist“, sagt Dr. Elsbeth Bösl, Herausgeberin des Themenschwerpunktes der Westfälischen Forschungen 2015. Die Verfasser der Beiträge haben an Beispielen des 19. und 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von Ein- und Ausschlüssen mit Widersprüchen, Uneindeutigkeiten und Ungleichzeitigkeiten zutage gefördert.“ Während etwa linke Kriegsopferverbände die Bilder von Verstümmelungen als politisches Druckmittel einsetzten, betonten andere die Chancen einer (begrenzten) Integration – je nach politischer Zielsetzung wurden also unterschiedliche Stufen der Inklusion und Exklusion angedeutet.
Ein zweiter Themenbereich in den Westfälischen Forschungen befasst sich mit den Nutzungsmöglichkeiten und methodischen Problemen, die bei der Auswertung überlieferter Interviews und Ego-Dokumente zum Zweiten Weltkrieg und zur Nachkriegszeit entstehen. Weitere Einzelveröffentlichungen behandeln die Arbeitsmigration im Amt Rietberg während des 19. Jahrhunderts, die Kinderlandverschickung in Hagen im und nach dem Ersten Weltkrieg, den Umgang mit lokalen Erinnerungsorten in Münster nach 1945, das von den Amerikanern im Film dokumentierte Vorrücken der US-Armee in Westfalen sowie die wirtschaftlichen und redaktionellen Herausforderungen, mit denen sich auch die westfälischen Tageszeitungen seit 1990 konfrontiert sehen.

Westfälische Forschungen 65
Themenschwerpunkt: Inklusion/Exklusion in regionalgeschichtlicher Perspektive
Aschendorff Verlag, Münster 2015, 688 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-402-15398-7, Preis: 69,60 Euro

Weitere Artikel

Letzte Beiträge