Im Zeichen der Selbstbestimmung

Dr. Adolf Ratzka. Foto: Intensive Home Care Consulting (IHCC)/Sebastian Heise
Dr. Adolf Ratzka. Foto: Intensive Home Care Consulting (IHCC)/Sebastian Heise

Anfang November fand der 6. Münchner außerklinische Intensiv Kongress (MAIK) statt. Der Veranstalter, die Intensive Home Care Consulting GmbH (IHCC), begeisterte rund 700 Teilnehmer aus dem In- und Ausland mit einem umfang- und abwechslungsreichen Programm aus Vorträgen, Workshops und Podiumsdiskussionen. Gemäß dem Leitmotiv „Nichts ohne uns über uns“ nahmen eindrucksvolle Vorträge und Erfahrungsberichte von Menschen mit Atembehinderung einen breiten Raum ein. Es wurde deutlich, dass die Betroffenen ihr Leben aktiv in die Hand nehmen und sich von einer Behinderung nicht aufhalten lassen. Das dürfte auch Dr. Adolf Ratzka, Gründer und Vorsitzender des Independent Living Institutes in Schweden, gefallen haben, der das Impulsreferat zu Beginn des Kongresses hielt.

Er machte deutlich, dass in Heimen und Behinderteneinrichtungen kaum auf individuelle Bedürfnisse der Menschen Rücksicht genommen werde. Daher sei Selbstbestimmung dort nicht zu verwirklichen. Menschen mit Behinderung können mithilfe persönlicher Alltagsassistenz als Experten in eigener Sache auftreten, was für Ratzka ein großes Stück Lebensqualität bedeutet und für ihn der einzig richtige Ansatz ist. Er weiß genau, wovon er spricht, denn er erkrankte 1961 an Kinderlähmung und lebt seitdem mit Hilfe von Beatmungsgeräten. Durch ein Stipendium war es ihm möglich, aus einem deutschen Krankenhaus heraus in ein Studentenwohnheim in Los Angeles zu ziehen und Kommilitonen als persönliche Assistenten anzustellen. In Schweden entwickelte er das Prinzip des Arbeitgebermodells, das wir heute in Deutschland kennen. Toll, dass er sich ohne Starallüren unter die Kongressteilnehmer mischte und sich an einigen Diskussionen beteiligte.

Spannende Erfahrungsberichte im Mittelpunkt

In der Vortragsreihe „Selbstbestimmung bei der Atmung“ aus der Sicht eines Arztes, Betroffenen und Pflegers ging Oberarzt Dr. Matthias Wiebel zunächst sehr einfühlsam und differenziert auf die unterschiedlichen Belange von Menschen mit Beatmung ein. Als Verantwortlicher für den Aufbau der Heimbeatmung an der Thoraxklinik in Heidelberg kam er nicht nur mit den verschiedensten Krankheitsbildern und -verläufen in Berührung, er entwickelte auch ein besonderes Gespür dafür, die Selbstbestimmung seiner Patienten zu fördern. Er brachte klar zum Ausdruck, dass Ärzte nicht nur ein vorgefertigtes Behandlungsbild im Kopf haben dürfen, sondern auch von den Betroffenen lernen sollten. Krankenpfleger und Lehrbeauftragter für Soziologie an der Hamburger Fernhochschule, Peter Albert, legte aus der Sicht einer Pflegekraft dar, welche Vorteile eine professionelle Beatmungspflege durch Fachkräfte bietet und stellte die These auf, dass diese Selbstbestimmung nicht einschränken muss, sondern auch unterstützen kann.

Lars Burde schilderte das Thema Selbstbestimmung aus der Perspektive eines Betroffenen: Der Muskelkranke arbeitet schon viele Jahre Vollzeit als Programmierer bei den Stadtwerken Heidelberg. Seine Assistenten stellt er über das Persönliche Budget ein und ist überzeugt von den Vorteilen dieses Assistenzmodells (Arbeitgeberprinzip), das ihm die volle Selbstverantwortung gibt. Dies vermittelte er eindrücklich durch einen praxisnahen und anschaulichen Vortrag.

Eine spektakuläre Story hatte ein schwermehrfachbehindertes Geschwisterpaar aus München auf Lager: Sie, Katharina Dinter, ist juristische Referentin im bayerischen Staatsministerium, er, Elias Dinter, Diplom-Informatiker, arbeitet derzeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Arbeitsgemeinschaft für künstliche Intelligenz am Technologie-Zentrum Informatik (TZI) der Universität Bremen. Letztes Jahr erfüllten sich beide einen Lebenstraum und unternahmen eine USA-Rundreise. Das war eine logistische Meisterleistung!

Mittendrin statt nur dabei

Neben tollen Vorträgen gab es auch Podiumsdiskussionen mit lebhafter Beteiligung. Beim Thema „Außerklinische ärztliche Betreuung“ unterhielten sich interessante Gäste darüber, wer für die Menschen da ist, die mit Beatmungsgerät aus der Klinik entlassen werden. Werden sie zu früh entlassen? und warum boomt die Pflege, während es außerhalb der Kliniken nur wenige Ärzte für beatmete Menschen gibt? – Das waren wichtige Diskussionsfragen. „Wir müssen mehr auf einander zugehen, ein gemeinsames Versorgungsmodell erarbeiten und uns sektorenübergreifend vernetzen“, so Fazit und Zukunftsperspektive der lebhaften Debatte. Ein weiteres Highlight des Kongresses war das Get Together am ersten Kongressabend mit der Verleihung des MAIK AWARD. Damit wurde das Kinderhaus AtemReich in München ausgezeichnet, das sich vorbildlich der Kinder annimmt, die beatmet werden müssen und nicht in ihren Familien versorgt werden können. Danach hatten die Kongressteilnehmer viel Spaß bei Live-Musik und Unterhaltung in entspannter Atmosphäre.

Hintergrundinfos: Die IHCC bietet mit dem MAIK seit sechs Jahren eine Plattform für alle Berufsgruppen (Wissenschaft, Medizin, Pflege, Therapie, Recht, Psychologie, Krankenkassen), die in der außerklinischen Intensivversorgung tätig sind und für Menschen, die maschinell beatmet werden sowie ihre Angehörigen. Ziele sind die Vernetzung zwischen Betroffenen, Ärzten, Therapeuten/Pflegern und Unternehmern und die Öffentlichkeitsarbeit außerklinischer Intensivversorgung. Der Kongress wird von einer Industrieausstellung begleitet, die die aktuellsten Beatmungstechnologien/-Techniken zeigt. Der 7. MAIK Münchner außerklinische Intensiv Kongress findet am 24. und 25. Oktober 2014 wieder im Holiday Inn Munich – City Centre statt. Weitergehende Informationen auf www.maik-online.org

 

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