Jäger im Rollstuhl

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Foto: Schweizer Paraplegiker-Vereinigung und Tanja Hegglin

Bereits zum dritten Mal hat die Jagdgesellschaft Wissemme Schüpfheim in der Schweiz Rollstuhlfahrer eingeladen, um an einer ihrer Revierjagden teilzunehmen. Die beiden Bündner Patentjäger Hans Pleisch und Peter Brägger sowie der St. Galler Revierjäger Wendi Eberle haben ihre Jagdausbildung noch als Fußgänger absolviert und üben diese Passion nun auch im Rollstuhl aus, aller anfänglichen Widrigkeiten zum Trotz.

Der Anfang der Geschichte liegt einige Jahre zurück und hat ihren Ursprung beim Monoskibobfahren. Sepp Zemp, einstiger Leiter der Monoskibob-Lehrer der SPV Sörenberg, lernte Hans und Wendi kennen, als die beiden ihren ersten Monoskibob testeten. Im Gespräch fanden sie sich dann in ihrer gemeinsamen Jagdleidenschaft, und die beiden Rollis erzählten von ihren Erfahrungen als „Jäger auf Rädern“. In der Folge lud Sepp als Obmann der Jagdgesellschaft die beiden und später auch weitere Rollstuhlfahrer zu einem gemeinsamen Jagdtag ein. Diesmal sollte auch eine Vertretung der SPV dabei sein, um darüber zu berichten. Etwas unschlüssig, ob mir das Jagen zusagen würde, habe ich mich entschieden dabei zu sein, um aus nächster Nähe zu erfahren, woher das Fleisch kommt, das dieser Tage vor uns auf dem feinen Wildteller liegt, sofern wir denn das Glück haben, einheimisches Wild serviert zu bekommen.

So bin ich am Morgen zwar pünktlich, aber in nicht ganz perfekter Jägermontur auf Sepps Bauernhof eingetroffen, gespannt, was da auf mich zukommen wird. 20 grün gewandete Männer mit geschulterter Flinte stehen bereits auf dem Hof, und auch die drei Rollstuhlfahrer sind bereit für den heutigen Jagdtag. Die Begrüßung ist bereits ein Outing meines fehlenden Jagdwissens. Mein freundliches „Grüezi“ und „Guten Morgen“ geht im kräftigen Händedruck und forschen „Waidmanns Gruß“ unter.

„Heute wird mit Schrot geschossen“

Nun denn mal los: Der Jagdleiter Franz Engel bittet um Ruhe, damit der Jagdtag eröffnet werden kann. Es wird geklärt, welche Tiere an diesem Tag geschossen werden dürfen. Weiter wird zur Sicherheit heute mit Schrot geschossen und nicht mit Kugeln, da die Gruppe relativ groß ist und einige Laien dabei sind. Ich bin mir im Moment nicht sicher, ob mich das beruhigt, oder ob der eben aufkommende Gedanke, das Ganze könne nicht ganz ungefährlich sein, mich in eine leichte Unruhe versetzt. Ich beschließe, mich auf jeden Fall an den Rockzipfel eines Rollis zu heften und keinen Schritt von ihm zu weichen.

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Fotos: Schweizer Paraplegiker-Vereinigung und Tanja Hegglin

Franz verteilt die Jäger auf die verschiedenen Standplätze im Gelände, bildet Grüppchen, die genau definierte Punkte „verstellen“ sollen. Andere werden als Treiber mit den Hunden auf strategische Orte verteilt. Mir selbst ist das Ganze etwas schleierhaft, aber da jeder genau zu wissen scheint, was er zu tun hat, gehe ich mit einer Gruppe mit und quetsche mich auf den Rücksitz eines Autos, den aufgeregten Hechelatem des Treibhundes im Nacken. Nach kurzer Fahrt erreichen wir unseren Posten. Wendi wird im Rollstuhl über ein steiles Bort zu einem idealen Platz mit gutem Überblick über eine kleine Waldschlucht mehr gehoben als geschoben. Bis alle Jäger auf ihrem Platz stehen und die Jagd angeblasen ist, vergeht noch eine Weile, die ich nutze, um Wendi ein paar Fragen zur Jagd zu stellen. Denn wenn es dann losgeht, gilt es, still zu sein und sich vor allem nicht zu bewegen, das hat Sepp mir vorab erklärt. Ich solle dann auf verschiedene Dinge achten, mir zum Beispiel nicht die Ohren zuhalten, wenn der Jäger zum Schuss ansetzt, denn Bewegungen vertreiben die Tiere schlagartig. Gut, ich versuche mein Bestes.

Die Jagd ist angeblasen

 Mittlerweile ist die Treibjagd in vollem Gange, ich höre das Gebell der Hunde, das Gehorne der Treiber, und auf einmal flitzt ein Fuchs von links an uns vorbei, Winkel und Abstand sind aber ungünstig für einen Schuss, und schon ist er weg – ein Glück für den Fuchs! Wendi hat mir zuvor erklärt, dass sein Bewegungsspielraum zum Schießen sehr eng ist, da sein Rollstuhl fixiert ist und er sich so kaum drehen kann. Er hat also nur eine Chance, ein Tier zu treffen, wenn es genau im richtigen Winkel und Abstand vor seine Flinte läuft. Er zeigt mir, wo das Wild vorbeikommen müsste und ich rechne mir wenig Chancen aus, denn die Schlucht ist relativ weitläufig, aber da habe ich mich getäuscht, hier ist richtig viel los. Von rechts huscht mit großer Geschwindigkeit ein zweiter Fuchs vorbei, er hat uns aber scheinbar bemerkt, denn er ändert abrupt seine Richtung und verschwindet im Unterholz. Von weitem ertönt ein Knall und danach drei Mal das Horn, dies bedeutet, dass ein Reh „zur Strecke gebracht“ wurde. Minuten später schießt auch Wendi ein Reh, das wie aus dem Nichts aus dem Dickicht gesprungen ist. Es ist sofort tot und liegt ziemlich weit unter uns am Hang. So warten wir nun, bis die Jagd mit einem Signal abgeblasen wird und uns jemand abholt, der das Tier gleich an Ort und Stelle ausnimmt. Die Innereien bleiben im Wald, die Füchse und Vögel freut‘s. Der erste Jäger, der zu uns stößt, bricht zwei Tannenzweige ab, streicht mit dem einen über das erlegte Tier und legt ihm dann den Zweig als „letzten Bissen“ ins Maul, eine Jägertradition, um das Tier zu ehren. Den zweiten Zweig steckt er dem erfolgreichen Jäger an den Hut und dann werden die Hände geschüttelt, „Waidmanns Heil“ und als Antwort „Waidmanns Dank“.

Jägerlatein bei Kaffee und Suppe

Die erlegten Tiere der Vormittagsjagd werden nun eingeladen, es wird gefachsimpelt und genau wiedergegeben, wie die Tiere gelaufen sind und wer wo welche Chance verpasst hat und welcher Hund die Fährte wann aufgenommen hat und, und, und … etwas Jägerlatein inklusive …

Nach einer stärkenden Suppe und einem heißen Entlebucher Kafi für uns und einer Extraportion Hundefutter für die Vierbeiner geht‘s am frühen Nachmittag wiederum los, diesmal in ein anderes Gebiet. Nun bin ich mit Peter Brägger und Hans Pleisch unterwegs. Der Einstieg in den Wald ist etwas beschwerlich, und so werden wir kurzerhand mit dem Traktor transportiert, die Rollis fachmännisch auf der hochgezogenen und leicht nach hinten geneigten Schaufel festgezurrt und dann am richtigen Ort „ausgekippt“. So geht‘s auch…

Diesmal sehen wir nur wenige Tiere außer den Hunden, die immer mal wieder vorbeikommen, mit der Spürnase am Boden, die langen Ohren aufgeregt hin- und her schlenkernd. Immer wieder wird gehornt, und ich frage Peter, was das zu bedeuten habe. Er kennt die Signale auch nicht, obwohl er schon lange Jäger ist. Seine Art zu jagen ist aber eine ganz andere, wie er mir erzählt. Bei der Patentjagd steigt der Jäger allein oder in kleinen Gruppen ins Gelände, es wird nicht mit Hunden getrieben. Normalerweise fährt er mit dem Quad an einen Platz und wartet da einfach, bis ein Tier vorbeikommt. Das bedeutet oft stundenlanges Warten, aber ihm macht das nichts aus. Mit seiner Sondergenehmigung kann er mit dem Auto oder Quad sechs definierte Orte anfahren. Es ist aber nicht erlaubt, aus dem Auto oder vom Quad aus zu schießen, er muss das Gefährt verlassen. Für gewöhnlich ist Peter auf der Jagd mit seinem Vater und seinem Bruder unterwegs. So hat er Hilfe, wenn es darum geht, das geschossene Wild in unwegsamem Gelände zu holen und aufzuladen.

Fehlschüsse sind zu vermeiden

Unser Jagdnachmittag ist erfolgreich für die Jäger, alle sind zufrieden. Wichtig ist nicht nur die Zahl der erlegten Tiere, sondern auch, dass kein Tier angeschossen wurde und verletzt geflohen ist. Das bedeutet nämlich, dass mit Schweißhunden danach gesucht werden muss, denn ein verletztes Tier wäre geschwächt und würde spätestens im kalten Winter elend zugrunde gehen. Dazu eine weitere Jäger-Weisheit, die ich an diesem Tag lerne: Fehlschüsse sollen möglichst vermieden werden, das heißt, in ungünstiger Situation wird aufs Schiessen verzichtet, denn „ein Reh ist auch nächste Woche noch ein Reh“.

Der zweite Teil der Jagd ist vorbei, alle treffen sich nochmals auf dem Hof. Der Jagdleiter löst den Jagdtag auf, den erfolgreichen Jägern wird gratuliert und „die Strecke wird verblasen“, das heißt, den erlegten Tieren (der Strecke) wird die Ehre erwiesen.

Rolli-Jäger mussten sich ihren Platz erkämpfen

 Beim feinen Znacht in der Jagdhütte wird rege diskutiert, und viele alte und neue Jagdgeschichten machen die Runde. Hans erzählt, wie er nach seinem Unfall 1996 nicht mehr zur Jagd zugelassen war, einfach, weil damals die Meinung herrschte, für Rollstuhlfahrer sei das nicht möglich. Das damalige Kantonale Jagdgesetz verlangte zudem, dass das Auto innerhalb der Ortstafeln abgestellt werden und der Jäger dann zu Fuß ins Gelände steigen musste. Erst im Jahr 2000 bewilligte ihm der neue Jagdinspektor drei Orte, die er mit dem Quad oder Auto anfahren darf, heute sind es sechs.

Mit vielen weiteren Geschichten klingt der Abend aus, und ich möchte es nicht versäumen, mich ganz herzlich bei Sepp und seinen Jagdkollegen zu bedanken für die große Gastfreundschaft und die vielen Erklärungen zur Jagd und bei Marie-Therese für die wärmende Mittagssuppe und das feine Znacht in der Jagdhütte – dies auch im Namen der drei Rollstuhlfahrer. Ich blicke zurück auf einen überaus spannenden Tag!

Nachdruck aus: Paracontact 4/2012 mit freundlicher Genehmigung der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung, Nottwil.

 Autorin: Tina Achermann

 

 

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