Silke Pan – volle Kraft voraus

Silke Pan, 20.6.13Sie kommt, fährt und siegt. So jedenfalls sieht es momentan aus, denn nicht nur beim diesjährigen Rollstuhl-Marathon in Heidelberg, wo Silke Pan ihr erstes Rennen als neues Mitglied im Team Sopur (Sunrise Medical) bestritt und die Weltbestzeit von 01:08:01 fuhr, war es so, sondern auch vorher, zum Beispiel beim Düsseldorfer Marathon 2013.

Ebenso beim Europacup und in der Deutschen Meisterschaft, sowohl im Bergzeitfahren als auch im Straßenrennen. So war es beim European Handbike Circuit in Louny (Tschechien), so war es beim European Handbike Circuit in Fossano (Italien) und so war es auch in Hamburg, wo sie sich erst spät angemeldet hatte, kein Hotel mehr in der Nähe des Startpunktes fand, in letzter Minute aus der S-Bahn stieg, sich ins Rennbike setzte, losfuhr und als Siegerin in Rekordzeit über die Ziellinie flog.

Wer ist diese Frau, die als Handbikerin in ihrer Klassifikation seit etwa einem Jahr auf der Überholspur unterwegs ist und einen Streckenrekord nach dem anderen fährt?

Silke Pan war bereits als Kind voller Ehrgeiz

Schon als Kind wusste sie, dass sie Artistin werden wollte, sagt sie. Und wenn Silke Pan etwas will, dann setzt sie es um, mit aller Konsequenz. Von Kindheit an waren Zielstrebigkeit und harte Disziplin vertraute Begleiter ihres Alltags. Sie war bereit, alles zu geben, was in ihren Kräften stand, um ihrem Traum vom Artistenleben nahe zu kommen. Deshalb trainierte sie bei jeder Gelegenheit, wo auch immer sie war und egal was sie sonst noch zu tun hatte. Es kam vor, dass sie sich in den Handstand stellte, dabei auf einer Hand balancierte und aus einem vor ihr auf dem Boden liegenden Buch Vokabeln lernte. Anstatt 40 Minuten mit dem Bus zur Schule zu fahren, rannte sie, um sich fit zu machen. Nach der Schule rannte sie zum Turmspringen, sie trainierte im Kader der Schweizer Nationalmannschaft. So spät es auch sein mochte, rannte sie nach dem Training nach Hause. Bergauf, weil ihre Familie in Lausanne oben am Hang wohnte. Nachts schlief sie nur einige wenige Stunden, denn auch in der Schule war sie ehrgeizig und wollte gute Leistungen bringen. Deshalb stand sie morgens sehr früh auf, um die am Tag zuvor liegengebliebenen Hausaufgaben zu machen.

All dies, sagt Silke Pan, tat sie nicht etwa, weil es von ihr verlangt wurde, nein. Sie wollte es so. Sie weiß nicht, woher das kam. Es war einfach da. Ein Wille, klar und tief in ihrem Inneren verwurzelt.

Artistenschule

Nach dem Abitur ging Silke nach Berlin und setzte ihren Weg mit einer Ausbildung an der dortigen strengen staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik fort. Nach bestandener Aufnahmeprüfung wurde sie sogleich in das dritte der vier vorgesehen Ausbildungsjahre versetzt, ansonsten sei sie unterfordert, hieß es. Sie spezialisierte sich auf Kontorsion*, Equilibristik* und Trapez. Mit 21 Jahren verließ sie die Artistenschule, das lang ersehnte Diplom in der Tasche. Als Artistin reiste sie in den folgenden Jahren durch ganz Europa und arbeitete im Zirkus, in Variétés, bei Modenschauen, in Freizeitparks und auf Festivals.

Der Körper als Instrument

Bewegung und körperlicher Ausdruck waren für Silke Pan von Anfang an eine Leidenschaft, die etwas in ihrer Seele zum Klingen brachte. Mit jedem Meter, den sie auf ihrem Weg voranging, bestätigte sich für sie, dass ihre Bestimmung genau in diesem Weg lag. Sie spürte, dass sie mit ihrem Körper etwas zu erforschen und zu entdecken hatte, sie wollte mit ihm zusammen Kunst machen, sie wollte mit ihm Grenzen ausloten und Schönes zum Ausdruck bringen. Ihr Körper war für sie wie der Pinsel einer Malerin oder wie die Geige für die Virtuosin, die im Moment des Spiels mit ihrem Instrument und mit der Musik verschmilzt. Sich als Kontorsionistin zu verbiegen, einer Schlange gleich, bedeutete für Silke, mit ihren Bewegungen Bilder zu malen. Die Kunst der Equilibristik gab ihr die Möglichkeit, mit ihrem Körper feststehende Bilder und geometrische Formen darzustellen. In jeder dieser Formen gibt es einen Punkt des absoluten Gleichgewichtes. „Ihn zu erreichen und ihn dann zu halten, ist wie in Schwerelosigkeit zu schweben“, sagt Silke.

Auch am Trapez hat sie diese magischen Momente erlebt. In Schwüngen und in harmonischen Bewegungsabläufen, allein oder mit dem Partner zusammen, im aufeinander vertrauenden Miteinander, wenn jede einzelne Bewegung stimmt und alles im Fluss ist.

Berufsrisiko

Seit 2002 arbeitete Silke Pan mit ihrem Partner Didier Dvorak zusammen. Die beiden entwickelten etliche Nummern, mit denen sie im Duo auftraten und sich einen Namen machten. Silke und Didier waren ein sehr gutes Team und lebten gemeinsam genau das, was sie wollten, in einem Leben, das immer in Bewegung war, voll, bunt, spannend, kreativ. Am Ende der Saison 2007 war das Duo für zwei Jahre im Voraus ausgebucht. Alles war perfekt, es hätte nicht besser sein können.

Doch dann geschah, was zum Risiko des Artistenberufs gehört und was doch in einem Artistenleben nicht vorgesehen ist. Silke und Didier probten in einem Freizeitpark in Italien für das nächste bevorstehende Engagement. Bei einer Figur am Trapez verpassten sie sich, Silke stürzte ab.

Mit Schädelverletzungen und gebrochenem Rückgrat wurde sie ins Krankenhaus gebracht und noch in Italien operiert. Dann sorgte ihr in der Schweiz lebender Vater dafür, dass sie nach Nottwil in das Schweizer Querschnittzentrum verlegt wurde. Dort wachte sie nach Tagen im Koma auf und erfuhr die Diagnose: Paraplegie. Sie würde nie wieder ihre Beine bewegen können.

Disziplin als Schlüssel zum Erfolg

Damit war das Artistenleben beendet. Doch Silke gab nicht auf. Auch wenn sie ein bisher nie gekanntes Gefühl des Gefangenseins im eigenen Körper empfand. Auch wenn ihre gelähmten Beine schwer und fremd für sie waren. Auch wenn sie kein Gefühl mehr dazu hatte, wer sie war, jetzt, wo sie nicht mehr die glanzvolle Artistin sein konnte. Auch wenn sie nicht wusste, wie und wovon sie in Zukunft leben würde, verbot sie sich, in Traurigkeit zu versinken. Sie wollte den Kopf hoch halten. Ihre in all den Jahren trainierte Disziplin half ihr dabei. Diese machte es ihr möglich, ein Lächeln aufrecht zu erhalten, auch wenn es innerlich schmerzte.

Didier

Auch für Silkes Partner und Gefährten war der Unfall ein gravierendes Ereignis, ein Trauma, das sein Leben innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde drastisch veränderte. Didier behielt zwar seine körperliche Unversehrtheit, und was das Wichtigste war, seine Frau war ihm geblieben. Doch wie Silke verlor auch er seine berufliche Identität. Auch er wusste nicht mehr, was er arbeiten und wie er den Lebensunterhalt für Silke und sich selbst verdienen sollte. Auch er wusste nicht mehr, wohin er gehörte. Nur eins war von Anfang an klar: Er wollte an Silkes Seite sein. Und klar war außerdem, ohne seine Silke würde er keine Bühne dieser Welt mehr betreten.

Silke Pan schöpft neuen Lebensmut

In der ersten Zeit nach dem Unfall häufte sich für Silke und Didier ein Schuldenberg von mehreren hunderttausend Schweizer Franken an, weil die zuständige Versicherung die Zahlung für medizinische Versorgung, Klinikaufenthalte, Hilfsmittel und alle weiteren Folgekosten des Unfalls verweigerte. Dreieinhalb Jahre lang mussten die beiden mit Hilfe eines Anwalts um die finanzielle Unterstützung kämpfen, die Silke zustand. In dieser Zeit wohnten sie in Lausanne. Didier hatte dort im Garten seiner Mutter einen Wohncontainer aufgestellt, unter dessen Blechdach im Winter Minusgrade herrschten und im Sommer Hitzestaus. Für ein Leben im Rollstuhl war der Container nicht angepasst, und Silke war in vielen Fällen auf Hilfe angewiesen. Didier half, wo immer er konnte.

Um die Zeit der Existenzsorgen zu überbrücken, taten beide, was sie gelernt hatten. Sie bauten Nummern auf, mit denen sie gemeinsam auftraten, Silke als verrückter Professeur Maboulette, der in einem Auto-Aéro-Fusée-Planeur über die Bühne fuhr. So nannten sie den von Didier zum Flugzeug umgebauten Rollstuhl mit Flügeln und Propeller. Außerdem absolvierten beide eine Ausbildung zum Dekorateur. Sie gründeten das Unternehmen Canniballoon und entwickelten Luftballon-Dekorationen für Einkaufszentren, Feste, Galas und Veranstaltungen aller Art. Inzwischen sind die Ballons europaweit bekannt und erfolgreich. Die Aufträge sind teilweise so umfangreich, dass Silke und Didier die Arbeit zu zweit nicht mehr bewältigen können. Sie stellen Teams von Dekorateuren zusammen, um ganze Universen und Luftschlösser aus Luftballons aufzubauen. Seit einiger Zeit haben sie eine eigene Wohnung im Schweizer Rhone-Tal, wo sie ein Loft gekauft haben, das sowohl ihr Atelier beherbergt als auch ihr privates Zuhause.

Silke Pan holt sich einen Sieg nach dem anderen. Foto: AWS
Silke Pan holt sich einen Sieg nach dem anderen. Foto: AWS

Handbiken

Während sie damit beschäftigt war, sich mit Didier zusammen eine neue Existenz aufzubauen, fand Silke weder Zeit noch Raum, sich dem für sie so wichtigen Lebenselement des Sports zu widmen. Doch als die Zeit gekommen war, begann sie, sich nach einer sportlichen Herausforderung umzusehen, die zu ihrer neuen Lebenssituation passte. Sie fing an, im Handbike zu trainieren. Der Wille, sich im Wettkampf zu beweisen und dabei in den vorderen Reihen mitzumischen wurde wieder wach. Silke nahm an ersten Rennen teil, und schnell war klar, sie wollte auf die Überholspur.

Wenn Silke in ihrem Liegebike unterwegs ist, fühlt sie sich eins mit sich selbst. Durch das Handbiken ist ihr Körper wieder zu dem geworden, was er früher für sie war. Ein Begleiter, den sie gern hat und auf dessen Stärke sie vertraut. Im Handbikesport tut Silke, was sie schon immer tat. Sie wendet allen Willen und alle Disziplin auf für eine Leidenschaft, die ihrem Leben das Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit gibt. Und seit dem Heidelberger Rollstuhlmarathon 2013 tut sie es nicht mehr nur allein sondern auch im Team Sopur (Sunrise Medical), in dem auch Größen wie Vico Merklein ihr sportliches Zuhause haben.

Silke Pan ist angekommen

Es ist ein langer Weg, den Silke und Didier gegangen sind, seit ihnen der Unfall passierte. Fünf Jahre danach, mit ihren Erfolgen als Handbikerin im Gepäck, rollt Silke in einer neuen Show auf die Bühne des größten Freizeitparks in der Schweiz, ohne Auto-Aéro-Fusée-Planeur, ohne Flügel, ohne Propeller. Sie zeigt sich als Silke, so wie sie ist, im Rollstuhl sitzend. Eindeutig, aufrecht, ganz. Im Zusammenspiel mit Didier zaubert sie ihren Zuschauern voller Elan und Spielfreude ein Lächeln ins Gesicht.

Maria Fremmer

Kontorsion: Eine Form von Akrobatik-Vorführungen, bei welchen der Artist seinen Körper in Positionen verdreht oder verbiegt, die für die meisten Menschen unerreichbar zu sein scheinen.

Equilibristik: Eine Bühnenform des Kraftsports. Meist von Duos dargeboten. Mit reiner Muskelkraft balancieren die Artisten, stützen sich einarmig, drücken sich in den Handstand. Alles soll leicht und harmonisch wirken.

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